Grit Poppe/ Autorin Grit Poppe/ Autorin

Der Hintergrund zum Roman „Abgehauen“

In der Prager Botschaft 1989

Interview mit den Zeitzeugen Silke Kuntze und Jens Hase

Prager BotschaftPrager Botschaft mit "Genscher-Balkon" heute

Was war der erste Eindruck nach Überklettern des Zaunes?
 

Jens Hase: Das Überklettern des Zaunes habe ich nur dumpf in Erinnerung, es musste ja schnell gehen und es ging sehr schnell. Ich habe meine Hand dabei leicht verletzt und bin eher ins Botschaftsgelände gestürzt. Ich saß im Schlamm und ich kann mich nur erinnern, dass ein anderer mir auf die Schultern klopfte und sagte: „Willkommen in Deutschland, Willkommen in der Freiheit!“ und ich habe erst einmal geweint!

Silke Kuntze: Wir sind gegen Mittag reingeklettert…. So nun bin ich hier … was kommt jetzt? So wie diese vielen Hände da waren, waren die auch schnell wieder „einfach weg“. Irgendwer sagte – „geht zu dem Tisch“, zu einer Bierzeltgarnitur unterhalb von der Ecke… da wurden die Personalien aufgenommen, ich bekam „507“ mein Ex-Mann „508“ und dann fragte wer… HUNGER? DURST? Und man zeigte uns wo die „Engel“ vom DRK waren…

Wie hat man sich gefühlt?

Jens Hase: Fremd aber frei und erlöst von den ganzen Strapazen. Ich war 19 und ich genoss es, dass man sich im Gelände frei bewegen konnte und es war diese Spannung in der Luft. Man hatte etwas Verbotenes getan und das war ja immer schon spannender als nach Plan zu leben.

Silke Kuntze: Gefühlt hab ich mich wie im Urlaub – ich denke ich habe nie wirklich nachgedacht, was passiert, wenn das nicht gütlich gelöst wird… Man hat sich irgendwie beschäftigt… sinnlos im Bett gelegen und geträumt, mit anderen geredet, zugehört, geholfen neue Zelte aufzubauen, wer was zu lesen hatte, hat gelesen, den Park erkundet… Briefe geschrieben….

Was für Sorgen und Ängste hatte man?

Jens Hase: Meine größte Sorge war, dass man vielleicht aufgrund der steigenden Aggressivität und durch Ausbrechen von Krankheiten das Gebäude räumt und wir zurück müssen. Ständig sah man Menschen mit kleinen Kofferradios der Marke Stern-Recorder und diese lauschten immer den Nachrichten. Immer wenn ich welche sah, fragte ich, was es denn Neues gäbe und man sah zusehends besorgte Gesichter.

Silke Kuntze: Wir wussten, dass der DRK- Konvoi aufgehalten wurde, damit Engpässe entstehen… Die Katastrophe war arg nahe…
Reicht das Essen für alle? Was wenn wir nix mehr kriegen, was wenn hier drinnen Spitzel sind…. Was wenn die uns hier irgendwie rausholen können?
Spitzel gab es – auch welche die enttarnt wurden… wären da nicht viele Hände dazwischen gegangen, dann hätte es übelste Lynchjustiz gegeben…

Wie war der Umgang miteinander?

Jens Hase: An und für sich war der Umgang anfangs sehr solidarisch. Es gab immer Menschen, die versuchten das Chaos zu organisieren, Streithähne zu trennen und Lagerwachen einzuteilen, an denen ich mich gern und rege beteiligte. Ich genoss es richtig, Menschen über den Zaun zu helfen und sie dann in den Arm zu nehmen, wenn die Emotionen herausbrachen.

Silke Kuntze: Der Umgang untereinander… leben und leben lassen… hast du was – dann kriegst du was… Alle waren im „gleichen Boot“, man hat versucht, zusammen das Beste draus zu machen… Fremde wurden – vielleicht auch nur kurzfristig – zu Freunden, andere Freunde fürs Leben… Mitte September war es soweit, das man die Betten zusammen gerückt hatte, um möglichst viele Leute unterzukriegen. Habe meinen Schlafsack mit nem fremden Kind geteilt. Im Gebäude – die auf den Treppen – die haben teilweise in Schichten geschlafen.

Gab es auch Konflikte oder Probleme?

Jens Hase: Nachts hörte man außerhalb des Geländes oft Hilfeschreie und auch mal Schüsse, die aus dem angrenzenden Wald kamen. Die Leute wurden nervös, aber das Botschaftspersonal wies ausdrücklich darauf hin, dass dies Fallen seien, um eventuell Helfenden die Handschellen anzulegen. Das war schrecklich, man hatte ein schlechtes Gewissen, man war in Sicherheit und meinte, dass da draußen Menschen leiden.
Ich weiß auch noch,  wie ein Mann durch den Zaun festgehalten und verprügelt wurde. Er hatte eine Praktika Kamera und Fotos gemacht. Man lockte ihn näher an den Zaun, griff ihn an der Kleidung und prügelte durch den Zaun auf ihn ein, weil er wohl offensichtlich als Stasispitzel enttarnt wurde. Auch im Gelände gab es so einen Fall, der Mann wurde halb tot geprügelt und ich hörte einen sagen: „Den schlagen wir jetzt tot und vergraben ihn hier, da findet das Schwein keiner mehr!“ Irgendeiner vom Botschaftspersonal befreite den Mann und mehr habe ich nicht mitbekommen.

Silke Kuntze: Im Garten war meist alles relativ ruhig – man wurde gut zur Ruhe ermahnt… Ab und zu gabs sicherlich einen deutlichen Streit mit Geschrei, Gekeife, wenn zu viel Alk im Spiel war.
Also, klar gab es auch Probleme. Wenn z.B. manche ihren „Pegel“ nicht hatten… Männer für Alk ihre Frauen an andere „verkauft“ haben… Oder wenn manche der Meinung waren, ich brauche jetzt Sex – egal ob Kinder im Zelt sind… das ging nie gut! Wenn manche sich auf dem Rücken der Kinder nen Vorteil verschaffen wollten…

Gab es Kontakte nach außen?

Jens Hase: Oh ja, es waren aller Art Menschen an dem Zaun. Welche, die einen überzeugen wollten zurückzugehen und einen beschimpften, Tschechen, die ab und an was zu essen durchgaben, welches ich aber aus Angst vor Vergiftungen ablehnte. Kamerateams und vieles mehr. Ich habe viele Interviews gegeben, aber leider bis heute keines wiedergefunden. Ich habe einmal einem Mitarbeiter der ARD die Telefonnummer meiner Eltern gegeben, er solle doch anrufen und sagen dass es mir gut geht und ich hier bin, dann habe ich  auch noch ein ZDF- Team darum gebeten. Beide haben tatsächlich meine Eltern informiert!

Silke Kuntze: Am Zaun kamen immer mehr Leute an – Tschechen und auch Deutsche (west). Niemand wollte das so recht glauben, was im TV gezeigt wurde. Kann mich an eine Frau erinnern, die mir sagte, sie dachte, das wäre alles gestellt. Es würde sie an Kriegszeiten erinnern…
Reisebusse kamen, Touristen liefen  am Zaun lang und ob Tschechen oder Deutsche – alle  fragten, ob sie was tun können, ob wir was brauchen… gingen in die Stadt einkaufen und kamen zurück oder brachten Post für uns weg…

Und dann kam Herr Genscher am 30. September – wie war das?

Silke Kuntze: An dem Tag wussten wir im Zelt von nichts, haben uns nur gewundert, warum ab Mittag die Tore zum Garten verschlossen wurden… Wir bekamen noch Neue ins eh überfüllte Zelt und der eine davon hatte als Abschied von seinem Vater einen Radiowecker in Würfelform bekommen – so waren wir auf dem neuesten Stand, was draußen passierte. Als alle erzählten das Genscher “da“ sei hörten wir im Radio: „RIAS Berlin… WIR UNTERBRECHEN FÜR EINE SONDERMELDUNG AUS PRAG – AUSSENMINISTER GENSCHER BEFINDET SICH IN DER PRAGER BOTSCHAFT“….. und dann wurde es ein Tumult…. Ich weiß nicht, wie lange wir am Zaun ganz oben ausgeharrt hatten, immer mehr Ü-Wagen erschienen und richteten ihr Equipment aus. Auf dem Balkon wurde gebastelt…. Fenster geöffnet und geschlossen … und alle haben gewartet, was geschieht. Irgendwie hatten alle ein GUTES GEFÜHL.

Jens Hase: Ich lag auf meiner Treppe und machte gerade ein Nickerchen. Ich wurde durch lauten Beifall langsam wach und ein junger Mann neben mir sagte: „Schau mal wer da kommt!“. Ich sah „ihn“ die Treppe hochsteigen, direkt an mir vorbei. Schlaftrunken fragte ich: „Herr Genscher was gibt es Neues?“, „Versammeln Sie sich bitte alle im Hof, ich möchte Ihnen etwas mitteilen!“.
Gerüchte kursierten was das wohl sei. Manche meinten, dass es auch nichts Gutes sein kann. Ich hatte panische Angst. Als er verkündete, dass wir ausreisen dürfen, sagte ich leise zu mir: „Mutti, Vati – ich komme, wir sehen uns wieder! Ich weinte und umarmte alle Menschen die um mich herum standen. Es erschien mir keiner mehr fremd."

Silke Kuntze: geboren 1968, stammt aus Weissenfels und lebt heute in Elze /Leine. Sie ist Call-Center-Agentin und hat einen Sohn.

Jens Hase: geboren 1970 in Eisenach, lebt heute im schwäbischen Günzburg, ist verheiratet und hat 2 Kinder. Er arbeitet als Dozent im Berufsbildungszentrum Augsburg und hat dort Gelegenheit den Jugendlichen, die er ausbildet, die dramatischen Tage von 1989 immer wieder nahe zu bringen.

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